Mit Sex verkauft man sogar die abgehalftertste Kleinstadt – oder warum Thun wieder in den Schlagzeilen steht. Abschweifungen, verfasst von einem, der sich seit fünfzig Jahren mit der Materie auskennt.
Da wird man am frühen Morgen per Telefon geweckt und denkt: „Wow, da will eine interessante Frau mit mir Kaffe trinken“, was ja vorkommen kann. Beim Verschlafen-zum-Telefon-Wanken noch schnell die Stimme aktivieren, um nicht wie eine Wasserleiche zu tönen… „Guete Tag, sind sie dä Anliker vom ‚Kafi Mokka’? Hie isch Killer vo dä Sunntigszytig… Mir … blabla…bla…“
Das ist definitiv zu viel an einem Morgen nach einem DJ-Job bis drei Uhr nachts. Seit zehn Tagen ist unsere kleine, selbstgefällige, verschlafene Stadt am Rande der grossen Berge wieder im Fokus der nationalen, ja sogar internationalen Medien. Thun Rolls! Was ist los in der kleinen Stadt? Das und natürlich am liebsten Namen und Details zum neuen Thun Hype möchten die Journalisten von „Sonntagszeitung“, NZZ,
„20 Minuten“ und natürlich auch die fussballfanatischen Menschen bei der WOZ wissen. „Sexskandal beim FC Thun!“ Das war die erste grosse Schlagzeile, die der „Blick“ am Dienstag 13. November 2007, brachte, aber diesmal waren die Schreiber aus der Limmatstadt nicht alleine, das Thema war so interessant, dass alle Medien davon berichteten. „Sex sells“ galt ja nie nur für den Blick, selbst die Love-Love Inserate in der WOZ wurden in den Neunzigern gut gelesen.
Dass aber gerade ich im Zusammenhang mit einem Sexskandal von den Journalisten bestürmt werde, ehrt mich, denn Sex finde ich echt das beste Opium für das Volk, mit Fussball konnte ich hingegen nie wirklich etwas anfangen, und mit dem FC Thun habe ich so viel zu tun wie Martina Hingis mit einem 24-Kräuter-Tee…
Nach den Schlagzeilen
Als Kind durfte ich zwei- bis dreimal an einen Fussballmatch, und dort hat mich einzig und allein „dr Streun“ fasziniert, das war ein Koloss von einem Mann, der mit dem Bauchladen durch die Stehtribüne zog und mit einer Art Megafonstimme seine Ware anpries: „Sändwitsch … Sigarette … Schoggolaa…!“ Ich, ein kleiner Schiss inmitten von Männern, die in gutes Tuch gekleidet waren, Bier tranken und eine Zigarette im Mund hatten, alles Sachen, die mein Vater nie machte. Das war Mitte der Sechziger, und mit Sex hatte ich damals noch nichts am Hut, da ich nicht so ein Frühreifer war und es auch noch keine Handycams gab damals. Nun, was ist los bei uns in Thun? Die Stadt sah die Tage nach den ersten Zeitungs-Leads noch genau so aus wie vorher, wir haben immer noch den gleichen Stapi, der seit über zwanzig Jahren im Rathaus sein Kontrollzentrum betreibt, der White Trash aus der Agglo ist wie eh und je mit der Kohle vom Sozialamt am Shoppen, die Kids laufen in ihren Turnschuh-Kapuzen-Mode mit den 1.5-Liter-Ice-Tea-Flaschen und den Bierdosen auf den Boden spuckend in Gruppen durch die Fussgängerzone, wie in Dietikon, Pfäffikon, Emmen oder Spreitenbach – aber nirgendwo Fussballer, die Teenies ficken, obwohl die ganze Welt davon spricht. Hier im Kulturghetto beim „Café Mokka“ ist man weit weg vom Lachenstadion und den gesichtslosen Spielerwohnungen, die im „Blick“ abgebildet waren, sehr weit weg vom Umfeld des Skandals, und die winterlichen Temperaturen lassen sowieso keine Gedanken an Fussball aufkommen. Hier in der Provinz schlummern noch ganz andere Skandale, kleine wie grosse, und es stehen in diesen Tagen auch noch zwei wichtige Abstimmungen an.
MMM-Aldi-Lidl-Boom!
Die eine führt uns wieder zum Fussball, das ist die Abstimmung um das neue Fussballstadion, wo GegnerInnen wie BefürworterInnen aus allen Gesellschaftsschichten und Parteien sich gefunden haben. Geplant ist ein Uefa-taugliches Stadion mit zehntausend Plätzen und Mantelnutzung durch einen Grossverteiler, ein Projekt, das sachlich gesehen nicht wirklich schlecht ist, aber halt doch umstritten bleibt, obwohl es als kostenneutrale Lösung für die öffentliche Hand gepriesen wird. Es gibt ja auch Gerüchte, dass der Sexskandal von Stadiongegnern lanciert wurde, was mir aber eher unwahrscheinlich vorkommt, weil der Kampf ums Stadion bis jetzt sehr verhalten geführt wurde. Der Bau eines Shoppingcenters, das als 08/15-Stadion getarnt wird, an einem wunderschönen, bis heute als Kulturland genutzten Ort macht die BürgerInnen dieser Stadt am Rande der grossen Berge wohl eher Mühe, denn Shoppingcenter werden hier im Monatsrhythmus eröffnet. Die Region Thun wird von den Grossverteilern als Wachstumsregion angesehen, und entsprechend ist deren Politik: zwei neue Aldis, ein neuer Lidl, die Verdoppelung der Verkaufsfläche des MMM-Oberland, der soeben eröffnete Ausbau mit Verdoppelung der Verkaufsfläche einer Migros-Quartierfiliale, ein Coop-Megacenter im gleichen Quartier, das Ende letzen Jahres eröffnet wurde… Warum es gerade in der Region Thun derart abgehen soll, bleibt uns allen hier ein Rätsel. Wissen die etwas, was wir nicht wissen? Vielleicht kommt ja der Sexskandal aus den PR-Abteilungen der grossen Lebensmittelverkäufer? Wer weiss? Denn jede Art von Werbung ist Werbung. „Dieser Skandal kommt zum falschen Zeitpunkt!“ So etwas Hirnrissiges hatte irgendein FC-Thun-Funktionär in seinem ersten Schock gesagt… „ Wär hett no nid, wär wott no einisch???“ Irgendwie erstaunt mich nichts mehr. Der Mensch wird wohl definitiv nicht besser werden. Abgestumpft und übersättigt mit der allzeit verfügbaren Pornografie sind wir ja alle, und Fussballer sind zudem besondere Hohlköpfe. Das sage ich schon seit Jahrzehnten. Ich hatte vor Jahren einmal ein Jahr lang die „Schweizer Illustrierte“ in meinem Briefkasten, und da waren immer diese Homestorys der Fussballer drin, seitenlang, mit Model-Freundin, mit Mutti-Freundin, mit Schatzimaus-Freundin – aber immer auf dem Sofa, in Adiletten, mitten in einer Otto’s-Warenposten-, Ikea-, Möbel-Märki-Landschaft, meistens mit weissem Keramikboden und Fussbodenheizung, zentralem Fernsehen mit Video (damals noch) und niemals einem einzigen Buch in Sichtweite!!!
Egal, wer sie ist
Fussballer sind moderne Söldner, die als Leibeigene in Wohnungen des arbeitgebenden Clubs vegetieren und relativ schlecht verdienen, wenn sie nicht Stars sind. Irgendein schlecht bezahlter Pimp des Klubs, der dann, sicher im Trainer, diese grauenhaften Landschaften einkaufen geht und der diese modernen Sklaventerminals einrichtet. Wenn der Klub Erfolg hat, ist die Stimmung sicher sehr euphorisch, die Prämien fliessen, der Trainer ist relaxt, der Präsident spricht dann sogar einmal mit einem Söldner, und alle wollen Freund des Schüttelers sein… Aber wenn der Klub am Arsch ist, wie das der FC Thun schon lange ist, dann wird es wohl hart auf dem Set, und wenn dann etwas Anerkennung aus dem weiblichen Umfeld des Klubs kommt – dann kann es so kommen, wie alle annehmen, dass es in Thun gekommen ist, obwohl sich alle sehr bedeckt halten und sogar die „20 Minuten“-Spezies in zwei Tagen Thunaufenthalt nichts Sensationelles herausgebracht hat… Zumindest nichts für eine Schlagzeile. Diese müsste ziemlich knallen und fast ein Beben auslösen. Eigentlich geistert diese Schlagzeile seit letztem Samstag in den Köpfen von Zürcher Journis herum. Das weiss ich, weil ich ein längeres Gespräch mit einem Jounalisten zu diesem Thema hatte, und selbst in Thun gibt es Leute, die dasselbe sagen… Aber warum kommt es dann nicht zur Schlagzeile? Vielleicht, weil es zu kalt ist draussen oder weil die Schweiz mit dem ersten Skisaisonweekend Positiveres zu berichten wusste? Oder werden die JournalistInnen einfach zu schlecht bezahlt oder zu schlecht geschützt, wenn sie sich auf die Äste hinauslassen? Ist die junge Frau die Tochter eines Thuner Gerichtspräsidenten oder, wie hier jemand sagte, eines prominenten Thuners? Mir ist das scheissegal. Fussball ist Scheisse und FC Thun ist definitiv nicht der Stoff, aus dem meine Träume sind, Thun ist ein Kaff und wird es bleiben, aber eines ist mir heilig: der Mensch und seine Privatsphäre! Jede und jeder, ob Richter oder Prominente, hat ein Recht auf seine Intimsphäre, und wer selber Kinder hat, kann sich vorstellen, wie das sein muss, wenn seine Tochter im zartesten Alter als Fussballklubmatratze endet. Horror. Und darum tut auch nichts zur Sache, wer nun die junge Frau ist und aus welchem Elternhaus sie kommt… Weit wichtiger wäre die Frage: Was für Männer aus dem Umfeld des FC Thun sind das, die angeblich mitbeteiligt waren, was sind ihre Funktionen im Klub, sind es Männer direkt aus dem Klub, Masseure, Assistenten, Werber…, sind es Angehörige der Fanclubspezies?
Hier in Thun ist ja wirklich etwas los. Auch ich, in meinem Job, werde mit Sachen konfrontiert, die für Journalisten interessant wären. Aber gerade junge Leute, wie sie bei uns ein und aus gehen, brauchen unsere Loyalität und unsere Diskretion, um ihre Lebenserfahrungen machen zu können. Viele Söhne und Töchter prominenter Thuner haben bei uns ihre Jugend verbracht, wild bis sehr wild, aber kaum je nüchtern. Alle stehen sie heute in den Fussstapfen ihrer biederen Eltern und werden genau dort landen, wo sie nie hinwollten. Die berühmte unbekannte, unterdessen sechzehnjährige Frau aus dem FC-Thun-Skandal ist sicher schon seit Tagen in einem Internat am Genfersee und wird wohl ihren Weg gehen, wenn sie in Ruhe gelassen wird. Gras wächst zwar im Winter nicht so schnell, doch in ein paar Tagen wird das neue Stadion wohl sowieso abgelehnt sein, der FC Thun wird Ende Saison in die Aldi-Liga absteigen, und die Söldner werden weiterziehen. Und mit ihnen die Journalisten.
Und ich? Ich alter Sack werde natürlich hier bleiben, in dem Kaff am Rande der grossen Alpen, wie schon die fünfzig Jahre vorher… Easy Man… Und werde aber wohl wieder in Ruhe ausschlafen können nach meinem DJ-Set.
MC ANLIKER betreibt seit 21 Jahren den Kultklub „Café Bar Mokka“ und hat zeitlebens in Thun gelebt. Auf der Mokka-Website http://www.mokka.ch gibt es viele Bilder ums Thema Thun.
(Dieser Text erschien in der WOCHEN ZEITUNG/WOZ Ende November 2007)