Mai 2005

Die Kleinstadt hast Du im Kopf……

Kleine Städte haben den Ruf des biederen, rückständigen und die Bewohner/innen dieser Städte werden meist belächelt und als Provinznudeln angeschaut. ‹‹u du, bisch geng no z’Thun…›› ist eine beliebte Frage von all den Spezies, die 30 Kilometer ins nächste Dorf, das ein wenig grösser ist, ausgewandert sind und nun meinen, sie seinen Kosmopoliten.
Kleinstädte meint man immer sehr schnell zu kennen und zu durchschauen und alles, was dort passiert, kann nicht wirklich für etwas sein, nur weil es in der kleinen Stadt passiert.
Kleinstädte sind Ortschaften, die von mehr als 20’000 Einwohner/innen bewohnt werden oder die traditionell den Status Stadt seit 100 Jahren und länger tragen. ‹Thun, die Stadt der Alpen›, wo ich geboren bin und, bieder wie nur etwas, immer noch lebe, hat ca. 40’000 Einwohner/innen, Bern, das Kaff, wo die meisten jungen Thuner/innen als erstes landen, und wo es Läden, Cafes und Restaurants gibt, wo du als Fremder blöder angeschaut wirst als im Restaurant Niesenblick in Aeschi, hat ca. 120’000 Einwohner/innen, Zürich, das langweiligste Dorf der Schweiz, wo jeder mit einer 1997 ‹Funk› Sonnenbrille und einer Freitagtasche immer noch als Kurator der Scene Disgo durchgeht… hat ca. 630’000 Einwohner/innen, dies so zur Dimension des Themas.

In der Kleinstadt grüsst Du Leute über Jahre von denen Du nicht einmal den Namen kennst, verschwiegen denn noch weisst, warum Du sie grüsst. Wenn Du als Kleinstadtei vor Jahren in New York auf der Strasse Leute gegrüsst hast, fühlten diese sich schon fast blöde angemacht. Als ich ein Jahr nach ‹Nineeleven› in New York war, grüssten sich plötzlich wieder wildfremde Menschen auf den Strassen und ich war plötzlich ziemlich ‹in› mit meinem ‹Provinzstyle›, denn in der Zeit des kollektiven Traumas hatten die New Yorker/innen plötzlich wieder ihre Nachbarschaft kennen und schätzen gelernt, haben wieder gemerkt, dass es auch noch anderes gibt im Leben, als Kommerz und Kariere und sind dabei merklich weicher und Menschlicher  geworden.
In der Kleinstadt kennen Dich die Leute, was manchmal echt nervt, aber auch viele Vorteile hat… Du bist in der EPA an der Kasse und merkst, dass Du Dein Honda Portemonnaie zuhause vergessen hast… Scheisse… aber auch nicht wirklich ein Problem, da die Verkäuferinnen Dich kennen, nimmst Du die Ware mit und gehst später zahlen. Du weißt, dass Du zahlen gehst, und sie wissen, dass Du zahlen kommst… so einfach ist das.

Eine alte Frau begegnet Dir auf der Strasse und Du weist, das ist Frau XXXX und von der weist Du, dass sie einmal im Quartier Coop gearbeitet hat und dass sie plötzlich verschwunden war und die Eltern Dir gesagt haben, dass sie gestohlen hat im Coop und mysteriös taten, wohl weil sie auch nicht mehr wussten über die Frau und deren Verfehlungen, und du weist… die hat gestohlen! Und das ist nun 40 Jahre her. Auch das andere Arschloch am Kantonalbankschalter vergisst Du nicht, er war doch der, der Dir 1965 den Ball auf dem Pausenplatz kaputt gemacht hat… das Arschloch…!!!           und der Zaunschiffer? Und der Leichenvögler? Alles sehr alte Geschichten, die Du zwischendurch wieder hervorkramst, weil Dir diese Personen über den Weg laufen, in der Kleinstadt! In den überschaubaren gesellschaftlichen Strukturen dieser grossen Dörfer kannst Du aber auch sehr gut einfach Dein Ding durchziehen und                 nach dem Motto leben… : ist Dein Ruf mal ruiniert, lebst Du völlig ungeniert… Beamte und Behörden sind in Kleinstädten meist noch ein wenig flexibler und menschlicher als die Leute in den grösseren Zentren und wenn Du ihnen bewiesen hast, dass Du und das was Du machst ‹was taugt› sind sie auch einmal bereit, Dir wirklich zu helfen. Dazu kommt natürlich noch, dass Du den einen oder anderen von weitem kennst, mal im gleichen Schulhaus warst oder Deine Schwester einmal etwas mit ‹sim Brüetsch het umegmechet›. Alles Sachen, die verbinden und die Verbindlichkeit schaffen.

Die eingangs erwähnten Kosmopoliten, die nun in Bern, Basel und vor allem Zürich leben und sich so viel besser fühlen als wir Provinzler, machen in ihren Metropolen sofort Kleinstadtstrukturen… informieren sich da über wer auch noch aus dem Kaff in der Metropole lebt und bilden bald die unheimlichsten Allianzen, veranstalten ‹Thuner Jassturniere› und Fondueplausch-Abende mit ‹Gerber Fondue®› aus Thun. Wenn dann einer eine neuen Freundin hat, und es nicht gerade eine Arbeitskollegin ist, ist es sicher eine aus dem Hometown…! Ach, wie  kosmopolitisch es ist, in der Grossstadt!
In Grossstädten leben alle Leute auch nur in ganz bestimmten Quartieren, besuchen meist die gleichen Clubs und die 4 Restaurants, die sie kennen und verkehren mit genau so wenig Menschen, wie sie das in der Kleinstadt getan haben, sie schaffen sich Kleinwelten, die sie überblicken können, das liegt in der Natur des Menschen, der früher einmal Jäger war und auch da den Überblick brauchte…

Wenn im Zürcher Partyclub Tonimolkerei an einem lahmen Freitagabend ein Fremder die Treppe herunter kommt, schauen alle! Etwas was mich als Teenie, in den frühen Siebzigern, an den damals hypen Kleintheaters so fertig gemacht hat und mich schwören liess, einmal einen Club zu machen, wo sich die Leute nicht umdrehen, wenn Du zur Türe rein kommst, auch in der Provinz nicht. Wenn die Kleinstadt landschaftlich so schön liegt, wie das Kaff, wo ich lebe, ist es durchaus auch erträglich an so einem Ort und…… Biederkeit und blöde Leute gibt es nicht speziell mehr bei uns als in der Grosstadt und zudem weiss man es ja…
Und, die Kleinstadt hast Du im Kopf oder eben nicht!

MC Anliker lebt in Thun, betreibt seit 17 Jahren den kosmopolitischen, multikulturellen, internationalen Musikclub Café/Bar Mokka und ist froh, nicht in Bern oder Zürich leben zu müssen, deren Scenen er als sehr bieder kennt und die ihn noch nie beeindruckt haben. Seiner Meinung nach ist die gesellschaftliche Enge in den Köpfen der Menschen und daran haben auch 30 Jahre Bewusstseins verändernde Drogen nichts ändern können.

(Dieser Text wurde für das Magazin Gruntz geschrieben, im Mai 2005 )

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