Dezember 2000

AUCH DAS JAHR 2000 HAT NUR 365 TAGE, ODER WIE DAS LEBEN IM EXPRESSTEMPO AN UNS VORBEIRAUSCHT. EIN PAAR GEDANKEN VON MC ANLIKER, VON HAND GESCHRIEBEN.

400‘000 neue Handys, das blüht uns zu Weihnachten 2000 alleine unter Schweizer Tannenbäumen! Eine nicht wirklich kleine Zahl, wenn man sich vorstellt, dass wir hier schon vor Weihnachten eine Handydichte von ca. 70% haben und dabei ja immer noch keine Handypflicht für Säuglinge und Altersheimbewohner besteht. Es wird zu dramatischen Momenten kommen, in diesem Weihnachtsgeschäft 2000, wenn nun ein Götti seinem Göttibueb eine Playstation PS2 von Sony schenken will, mit dem dann der 10jährige Junge, neben Spielen, noch eine Software zum Bau von Kernwaffen entwickeln kann, was ja durchaus zu begrüssen ist, da er doch dann noch die Möglichkeit hat, bei Schweizer Jugend Forscht einen Förderpreis zu gewinnen und die PS2 gar nicht mehr lieferbar ist. Weil, werbewirksam wie nur etwas, Sony das CH-Kontingent Dezember 2000 mit ca. 1’000 Stück festgelegt hat und die Station erst wieder im April 2001 lieferbar ist. Und, nach dem ersten Frust und einer zögerlichen, leisen Protestkundgebung (nach Schweizer Art) im Compigeschäft, schaut er in einem Lifestylemagazin nach, was denn für einen Kid auch noch megaheiss sein könnte und stösst auf das SMS Junkie-Kultteil, Nokia 3210, deren neue Variante 3310 ganze 459 Zeichen für SMS Nachrichten anbietet und eine Standbyzeit von 260 Std. aufweist. O.K., ab in den Diax-Shop und hinten anstehen, in der EPA, beim Restauranteingang, den Senioren und Lerchenfeldbürgern, die dort ihre Crèmeschnitte essen wollen, den Weg versperrend, und sich beim Warten noch überlegen, ob er den Plastiktannenbaum mit Drehlicht und Vibrespace Effect – den Favoriten von MC Anliker (was er ja nicht wirklich wissen kann, weil er ja mit Rock’n’Roll nie etwas am Hut hatte und somit MC Anliker und seine Liebe zur EPA und seinen Hang zum Kitsch gar nicht kennt). Als er dann endlich den EPA Restauranteingangsbereich verlassen hat und am Diaxshop-Tresen steht, muss er hören, dass es mit dem Nokia 3310 auch nicht klappt, ausverkauft! Lieferstop und somit erst am 1. August 2001 wieder lieferbar! Horror. Scheisse! Alles Scheisse, oder was? Nein, lieber Götti, wirf die Flinte nicht ins Korn und vergiss das Lifestylemagazin für einmal und höre auf einen realistischen, wirtschaftsunabhängigen Jugendexperten und der sagt Dir etwas, was in keinem Lifestylemagazin steht: Direkt nach Playstation PS2 und Nokia 3310 kommt nämlich das Kiffen (Verbrennen von Pflanzenteilen der Pflanze Marihuana und damit Erzeugen eines hallozinogenen Rausches) ist in der  Gunst der Jungen ganz oben. Also, lieber Götti, ab in den Growshop (so etwas wie eine Baumaterial AG für Kiffer) und kauf dem 10jährigen, zukunftsweisend, ein Growset für Einsteiger! So hat der Kiddy doch noch etwas sehr hypes unter dem Weihnachtsbaum und wenn er ein wenig Wille zeigt, schafft er locker eine neue, hochpotente Grassorte, die er dann an einer Hanfmesse auszeichnen lassen kann, z.B. 15. Schweizer Qualitätshanfkongress, 1. Preis in der Kategorie: Einsteiger-Badezusatz oder vielleicht mit 14 dann doch noch bei Schweizer Jugend Forscht, Kategorie Jugend und Drogen eine Preis abholt.  (Später kann er ja das Patent verkaufen, oder damit an die Börse!) So, da sehen wir wieder einmal wie schwierig es ist, z.B. Götti zu sein!

Aber lieber Götti, ich kann Dich trösten und Dir zurufen: Götti zu sein ist schwer, ich weiss! Aber eins musst Du wissen: Schreiben ist Leiden (MC Anliker 2000), man sollte es meiden, wie alles, das einem macht leiden… die Kühe, die müssen ja teilweise auch nicht mehr weiden, auch Rinder füttert man nur noch den kleinen Kindern, weil der Wahn geht in den Zahn und die fallen den kleinen Kindern ja von selber aus den Mündern… Scheissprosa! Mann! Vielleicht sollte ich ja das Schreiben in Zukunft auch meiden, weil das Leiden beim Schreiben ist etwa nur noch zu vergleichen mit dem Leiden, wenn die Liebste in der Wüste von Kasachstan an einem Survival-Seminar weilt und man nicht weiss, ob sie’s überlebt oder ob sie mit dem Seminarguru ans schwarze Meer abhaut und sich in den Casinos von Novorossijsk in den Hummerkneipen von Suhumi oder in den Champagnerbars von Sevastopol vergnügt und Mann zuhause sitzt, betrübt!

Geschrieben wird ja auch im Zeitalter der E-Mails nicht gerade wenig, aber dafür ist dort der Verlust der Sprache erschreckend. Anreden fallen noch so knapp wie  <Dear all> aus, Endungen gibt es kaum mehr und ein Schreibfehler pro Wohrt icht schonn zimlich normahl… Dafür ist das Tempo enorm, was gemailt ist, wartet 10 Minuten später schon auf eine Antwort. Die angeheftete Bilderdatei braucht zwar manchmal fast 20 Minuten, bis sie sich öffnen lässt, aber es ist heute auch im Musikbusiness Norm, alle Fotos auf Homepage zu packen und somit die Kosten für teure Fotos und noch teurere Posttaxen zu sparen. Manchmal ein zugegebenermassen hilfebringendes Instrument, was uns aber wiederum noch mehr zum Sklaven der Zeit macht und uns zu Knechten von Microsoft und Co. mutiert.

Oh, da kommt mir ja noch in den Sinn, wem ich ein längeres, ziemlich privates Mail beantworten sollte, scheisse! Lieber Melchior Buchs, merci viel mal für das Mail vom 2. November 2000! Und liebe Schwester, auch merci für Deine Mail, auch vom 2. Nov., sie werden noch beantwortet, Ehrenwort! Oh, diese unerledigten Sachen, die einem immer auf dem Magen liegen, kein Wunder, dass ich trotz relativ seriösem Lebenswandel manchmal einen Magen habe, der sich anfühlt wie ein Stück von West-Beirut, Ende der 80er Jahre. Apropos Beirut, meine Reise dorthin hat leider auch 2000 nicht stattgefunden, shit!

Was war aber dieses 2000? Eines weiss ich, es war sehr schnell vorbei. Ein unheimliches Tempo haben wir hier, und darob vergessen wir manchmal, was genau abging in einem Jahr. Privat, geschäftlich, Inhalt, Aushalt, haltbar…!? Privat? Kein Tag krank! Ausser, alle drei Tage eine Midlifecrises (nicht der Rede wert), ein paar Tage Herzschmerz, viel Glück mit dem Herzen, ein schmerzhafter Fahrradunfall und mein neues Leben als Single, das langsam Form annimmt, keine Reise nach New York oder Beirut, dafür ein wenig Ferien jeden Tag in Thun und das ist auch geil, das sage ich Euch. Geschäftlich: Was war da eigentlich? Ein Jahr mehr Mokka. (Das 14. Jahr… schon fast die Pubertät vorbei, wau!) Topacts, gross aufgemacht, gab es 2000 keine, keine Heartbreakgeschichte, kein Umbau, keine riesige Mediensache, just Reality, Alltag, was so nach Langeweile tönt… aber damit nichts zu tun hat.

Ich weiss, wenn man keine Top-Events macht und stattdessen fünf Mal die Woche die Türe zu einem Gesamtevent öffnet, ist das nicht die Hölle, es ist schlicht und einfach nicht Hype oder zumindest zuwenig Hype für all die Yuppies und Ökies in dieser Stadt. Vielleicht machen wir ja 2001 eine Pressekonferenz, wenn wir einen Toilettenpapierwechsel vollziehen, wer weiss! Oder geben das per SMS-Kartei den Kids durch, wäre auch mal was anderes.

Also, Mokka-Alltag ist für uns immer noch aufregend genug, ehrlich! Es braucht jeden Tag von neuem so viele Sachen, die zu Berücksichtigen sind und dies unabhängig vom Geschäftsgang, der wiederum klar besser sein könnte. So viele Kleinigkeiten, die stimmen müssen, die zusammenpassen müssen und die auch nicht wirklich wahrgenommen werden, im Gesamtwerk CAFÉ/BAR MOKKA, aber deren Fehlen man irgendwann spüren würde! Bei uns gilt ganz stark, was allgemeingültig ist: 1’000 schlechte Details ergeben ein Stück Scheisse, 1’000 gute Details ergibt etwas wirklich spürbar Schönes, Tragendes, Strahlendes. Klar?

Mokka ist ein aufwendiger Betrieb, doch nur mit Detailarbeit ist es für uns möglich, das Haus als Freiraum den Leuten anzubieten, immer und immer wieder. Klar sind Details, filigrane menschenfreundliche Strukturen, im Moment nicht wirklich angesagt. Zu uniform kommt die Jugend 2000 daher, zu gleichgeschaltet, zu systemgläubig, zu unkritisch. Da hat eine Institution wie CAFÉ/BAR MOKKA nicht mehr so viel zu melden. Lifemusik, keine Security, keine Bauchfrei-Girlies hinter den Bartresen, keine gepuderten Veranstalter-Nasen, kein SMS-Service, keine Ibiza House + Trance Party, so billige Getränke und noch Blumen auf den Toilletten. Hey, gaht’s no? Das isch de nüm zytgemäss, simer ehrlich!

Was heute angesagt scheint, sind teure und langweilige Technopartys in grossen, anonymen Clubs. Samstagabend mit Securities in Uniformen mit Knopf im Ohr, jenen Sponsortransparenten und viel Anonymität. Mir fällt auf, dass immer weniger unserer Gäste überhaupt noch grüssen oder irgendwie einen Kommunikationsversuch starten. Annonymität als Mass der Dinge, an die Bar stehen beim Bestellen noch Cola oder Bier sagen und that’s it!

Es scheint, dass die Jugend 2000 nur noch dieser, einen, Art von Kultur traut – der kommerziellen! Schade! Viele Künstler sagen jeweils: wart’s ab. Das kommt schon wieder! Irgendwann haben die Leute genug von diesen DJ’s, dann wollen sie wieder Lifemusik hören. Nur, sage ich jeweils, das ist Wunschdenken von Euch, dazu noch Legitimation für Eure Arbeit und Entschuldigung dafür, dass wir draufgelegt haben bei Eurer Show. Vielleicht ist es schon so, dass Lifemusik wiedermal <ein Ding> wird, aber dann auch nur auf der Kommerz-Schiene, wo es ja immer eigentlich sehr gut läuft (Hallenstadion Zürich, Gurten Open-Air usw.). Alte Säcke zum 30. Mal und nicht unter Fr. 60.– Eintritt, bitte, das ist angesagt. Immer und immer wieder und für mich als Independent-Vertreter scheint: Immer mehr!

Keine Lust mehr, neue, unbekannte Sachen zu entdecken. Was der Kiddy nicht kennt, kennt der Kiddy nicht. Einfach. Punkt. Fertig! Und was nicht auf dem Server und auf dem SMS-Service erscheint und was nicht in Forecast, Kult und all den Weichspül-Magazinen steht, existiert nicht mehr. So ist es heute und so wird es immer mehr werden. Die Kommunikationsportale sind in den letzten zwei Jahren neu strukturiert und eingerichtet worden. Sony, American on Line, Orange usw. haben ihre Märkte sehr gut organisiert und mit der Vernetzung und der Komptabilität verschiedener Medien soweit Druck gemacht, dass wir schon heute bei gewissen Produkten nur mit dem <gleichkonzernigen> Produkt B weiterkommen, z.B. Internetportale, die Du durchdringen musst und dabei noch die Werbung von C konsumieren musst, ob Du willst oder nicht.

So konzentriert sich die Macht in immer weniger Händen und das wird verheerendere Auswirkungen auf die kulturelle Vielfalt eines Landes haben. Wir haben ja heute schon in allen Ländern der Welt, Indien ausgenommen, die gleichen Filme in den Kinos und das ist nun definitiv nicht mehr lustig. Es macht auch keinen Spass, wenn man in Lissabon die Zeitung aufschlägt um auszuchecken, was im Kino so läuft und man sieht die gleichen Hollywoodstreifen im Programm wie in Bern, Palermo, München und Aarhus.

Ich weiss, dass wir kleinen Fuzzis zu klein sind, um da wirklich Gegensteuer geben zu können im Grossen, aber um so wichtiger ist es, im Kleinen etwas zu verändern und in Thun eine Insel für zeitgenössische Musik in Betrieb zu halten, wo Mann/Frau jede Woche hören kann, was anderswo auf der Welt produziert wird, wie Trends in der Musik sein können, und wie sie tönen. Als Treffpunkt für Leute von hier sind wir ja sehr wichtig, das finde ich auch richtig, aber die Rolle, die wir im internationalen Musikzirkus haben, ist auch nicht zu unterschätzen und solche Läden wie CAFÉ/BAR MOKKA werden auch immer seltener. Wir sind Spezies, die am Aussterben sind. Gastfreundschaft, Grosszügigkeit, faires Zusammenarbeiten und <Respect> zollen <den> Künstlern, die Respekt verdient haben. Alles Sachen, die Künstler fast nie erleben, wenn sie unterwegs sind.

Wir wollen auch im 2001 mit dem fortfahren, was wir immer schon gemacht haben, einen menschlichen Begegnungsort betreiben, der nach anderen Grundsätzen arbeitet als Norm und üblich ist! Das ist ein Wort und das soll am Schluss so stehen und wer weiss, vielleicht gibt es ja im Herbst 2001 ein 15 Jahre CAFÉ/BAR MOKKA-Jubiläum mit allem Drum und Dran. (Ein Gedanke für den ich mich noch erwärmen könnte.) Liebe Leserinnen, liebe Leser dieses Dezember Programmheftes, lest doch einfach die nächsten 17 Seiten auch noch, merci!

Mit der Hoffnung, dass wir im Dezember noch ein paar musikinteressierte Spezies hinter dem Compi vorlocken können, verabschiede ich mich aus dieser Seite.

Bleibt sauber und kommt spätestens an Silvester

Herzlichste Wintergrüsse sendet Euch

MC ANLIKER

MASTER OF WRITING 5 HOURS FOR THIS TEXT

MASTER OF LISTENING CLASSIC MUSIC AT HOME

MASTER OF LOVING COMPLICATE WOMANS

MASTER OF CEREMONIES SINCE 14 YEARS

CAFE BAR MOKKA

Allmendstrasse 14 | 3600 Thun
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